Ich hatte die Synagoge nur wenige Minuten vor dem Ankommen des Attentäters verlassen. Ich ging durch dieselbe Tür, die der Täter abschießen wollte, ich war an demselben Ort, wo er Jana L. getötet hatte. Wäre ich paar Minuten später rausgegangen, würde ich von Ihnen heute nicht stehen.

Was ist geschehen: 

Nach dem Morgengottesdienst am Jom Kippur wollte ich einen kurzen Spaziergang machen, um frische Luft zu bekommen. Ich ließ mein Gebetbuch auf meiner Bank liegen und dachte, ich wäre in wenigen Minuten wieder da.

Ich verließ die Synagoge. Ich hatte nichts mit, außer der Kleidung, die ich trug, und meinem Schal. Ich hatte weder Handy noch Geld am Jom Kippur dabei. Ich ging durch die Synagogentür, bog rechts ab und landete im Nordfriedhof der Straße gegenüber. 

Wenn ich mir die Karte anschaue, bin ich wahrscheinlich über die Humboldtstraße zur Schillerstraße, Herder- / Hollystraße und dann über die Paracelsusstraße gegangen und habe mich auf eine Bank im Park Nordfriedhof gesetzt. Ich konnte den Wasserturm sehen.

Ich weiß nicht genau, wie spät es war, aber ich hörte ein lautes Geräusch, dann war es für kurze Zeit wieder ruhig. Danach noch ein lautes Geräusch und dann wieder Stille. Ich konnte die Schüsse hören und war in der Nähe. Ich wusste nicht, was los war, aber mein Eindruck war, es sei nichts Gutes. Die Geräusche kamen aus der Richtung der Synagoge. Ich dachte, dass etwas passiert ist, ich geriet nicht in Panik, jedoch  dachte ich zu mir, dass es im Sinne der persönlichen Sicherheit besser war, auf der Bank sitzen zu bleiben. Ich habe nichts gesehen, ich habe nur die Schüsse gehört.

Ungefähr 20 – 30 Minuten später beschloss ich, zur Synagoge zurückzugehen. Als ich zurückkam, war die Polizei schon da und alles war verschlossen. Viele Leute standen herum, die Polizei antwortete nicht auf meine Fragen zum Geschehenen. Ich versuchte, meine Situation zu erklären. Sie sagten mir, ich solle den Ort verlassen. Ich sagte, ich hätte weder Handy noch Geld bei mir und alle, die ich in Halle kannte, waren in der Synagoge.

Ich hatte weder Handy noch Personalausweis dabei, weil es Jom Kippur war, der heiligste Tag des jüdischen Jahres, und man trägt an diesem Tag kein Geld und kein Handy. Diese Gegenstände blieben in dem Hotel, wo wir die Nacht zuvor verbracht hatten.

Die Polizei suchte noch nach dem Täter. Die Situation in Halle blieb immer noch gefährlich. Die Polizei empfahl mir, das Gelände zu verlassen, aber alle Leute, die ich in Halle kannte, waren in der Synagoge. Ich kannte sonst niemanden und wußte nicht, wohin ich gehen sollte. Immer wieder versuchte ich, der Polizei meine Situation zu erklären, aber ohne Erfolg.

Endlich kam der Vorsitzende der Gemeinde aus der Synagoge und erklärte der Polizei, dass eine amerikanische Frau aus der Gruppe innerhalb der Synagoge vermisst wurde. Der Vorsitzende war von Yaffa F. in der Synagoge darüber informiert worden. Ich hatte niemandem angekündigt, dass ich frische Luft haben wollte. Yaffa F. bemerkte, dass ich nicht am Ort war und informierte Max Privorozki. In diesem Moment stimmte die Polizei meine Angaben mit denen von dem Vorsitzenden ab, und ich durfte mit ihm wieder in die Synagoge. Wir betraten die Synagoge durch die Tür auf der Seite des Friedhofs. Ich erinnere mich nicht, wann genau ich zurückgekommen bin, aber ich glaube, es war irgendwann zwischen 12:20 und 13:00 Uhr.

Nach dem Anschlag:

Die wenigen Tage nach dem Anschlag waren erträglich – ich fühlte mich noch wie ich selbst, aber dann ist etwas ausgebrochen und alles war verschwommen – es fühlte sich wie ein großer Rückschlag in meinem Leben. Es war das jüdische Neujahr – ich hatte so viele Ziele und Träume für dieses neue Jahr, für meine Karriere und für meine Beziehungen. Plötzlich bin ich gefühlt zu meinem jugendlichen Selbst zurückgekehrt.   Es fiel mir schwer, alltägliche Aufgaben zu erledigen. Selbst durch den Tag zu kommen, wurde schwierig. Bei jedem Schritt plagten mich Stress und Ängstlichkeiten. Ich habe mir dann psychologische Hilfe ausgesucht und bei mir wurde eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert.

Nach vielen Monaten in der Therapie, mit Hilfe von meinen Freund*innen und meiner Familie, von meinem Glauben und meiner eigenen Entschlossenheit trat ich in eine neue Phase ein, in einen neuen Beginn. Ich fühlte mich stark und machtvoll. Ich habe mich wiedergefunden.

Ich habe wieder die Person gefunden, die zu dem jüdischen Leben beiträgt, die Person, die Brücken zwischen Glauben und zwischen Menschen und ihren  “anderen“ schlägt. Ich habe wieder die Person gefunden, die Hoffnung auf die Menschheit hat. Das tue ich immer noch.

Ich weiß, dass sich die Einstellungen und Wahrnehmungen der Menschen gegenüber anderen ändern können. Zum Beispiel, ich koordinierte einen wunderschönen Kabbalat Schabbat – Gebetsgottesdienst am Freitagabend auf einer interreligiösen Konferenz. Eine Frau eines anderen Glaubens weinte. Sie sagte – “Mir wurde mein ganzes Leben lang  beigebracht, Juden zu hassen – ich hatte keine Ahnung, dass Juden so fröhlich sind.” Ich habe immer noch Hoffnung.

Überlebende und Familienresilienz:

Ich habe gehört, dass der Attentäter Holocaustleugner ist. Er glaubt nicht, dass 6 Millionen Jud*innen von den Nazis geschlachtet wurden.

Mein Großvater hat den Holocaust überlebt. Er war der einzige Überlebende in seiner Familie – seine Mutter, sein Vater, seine drei jungen Brüder, Großmutter, Tanten, Onkel, Cousins ​​- alle wurden vernichtet. Über 100 seiner Verwandten wurden im Holocaust ermordet.

Sehr lange Zeit war mein Großvater der einzige Überlebende in unserer Familie. Am 9. Oktober 2019 bin ich ebenfalls eine geworden. Ich stehe neben ihm. Die Stärke, die ich heute zeige, beruht auf dem Glauben und der Widerstandsfähigkeit meiner Familie. Ich vertrete heute nicht nur mich. Ich vertrete die Generationen des jüdischen Volkes, die vor mir kamen, und alle, die nach mir kommen werden.

Ich trage zum Zeugenstand ein Bild von meinem Großvater und mir . Ich war sein erstes Enkelkind, das neue Glied in der Kette, die fast abgebrochen wurde. Ich war das Zeichen der Hoffnung für unsere Familie. Von dem Moment an, als ich geboren wurde, wurde ich zu seiner größten Freude. Er war entschlossen, mich vor allem Bösen zu schützen.

Trotz des Bösens, das er ertragen musste, strahlte er immer Lebensfreude aus. Er war Chasan in der Synagoge, jemand der, die jüdischen Gebete und die Liturgie leitete und sang, insbesondere am Jom Kippur. Er sang für mich und meine Geschwister jüdische Lieder und brachte uns auf diese Weise die Liebe zum Judentum bei. Deshalb ist die Synagoge mein Zuhause. Zuhause für mich ist alles Jüdische.

An jedem Abend vor Jom Kippur segnete mich mein Großvater mit dem traditionellen Segen für Kinder: Er legte seine Hände auf meinen Kopf und sprach mit Tränen in den Augen:

Möge Gott dich erheben wie Sara, Riwka, Rachel und Lea..

יְשִׂימֵךְ אֱלֹהיִם כְּשָׂרָה רִבְקָה רָחֵל רָחֵל

Yesimech Elohim k’Sarah Rivka Rachel v’Leah

Möge Gott dich segnen und beschützen.

יְבָרֶכְךָ יְהוָה וְיִשְׁמְרֶךָ

Yivarechecha Adonai v’yishmerecha

Möge Gott dir Gunst zeigen und dir gnädig sein.

יָאֵר יְהוָה פָּנָיו אֵלֶיךָ וִיחֻנֶּךָּ

Ya’er Adonai panav eilecha vichuneka

Möge Gott dir Güte zeigen und dir Frieden gewähren.

יִשָּׂא יְהוָה פָּנָיו אֵלֶיךָ וְיָשֵׂם לְךָ שָׁלום

Ich spreche nicht direkt mit dem Täter, aber ich will ihm eine Sache klarmachen:

Er hat sich mit der falschen Person angelegt. Er hat sich mit der falschen Familie angelegt. Und er hat sich mit den falschen Menschen angelegt.

Ab heute wird er mich nicht mehr in Aufruhr versetzen. Das endet jetzt.