Halle Prozess: Gerüchte gehen um. Der Prozess ist nicht in Gefahr. 
Skandal ist die fehlerhafte Anklage des Generalbundesanwalts.

Am Ende des gestrigen Hauptverhandlungstages kam das Gerücht auf, das Verfahren könnte wegen eines Antrages der Verteidigung platzen. Solch eine Gefahr gibt es nicht. Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Aussetzung liegen offensichtlich nicht vor. 

Ein Verteidiger des Angeklagten hatte die Aussetzung, d.h. den Neubeginn des Verfahrens, bzw. die Unterbrechung des Verfahrens für drei Wochen, nach § 265 Abs. 3 StPO beantragt. Ein keineswegs ungewöhnliches oder unerwartetes Vorgehen. Ausgangspunkt hierfür war ein gerichtlicher Hinweis. Das Oberlandesgericht Naumburg hatte zuvor darauf hingewiesen, dass in Bezug auf den Nebenkläger Herrn Ibrahim eine Verurteilung wegen versuchten Mordes anstelle der angeklagten fahrlässigen Körperverletzung in Betracht kommt. Herr Ibrahim, ein Schwarzer Mensch, war vom Angeklagten auf seiner Flucht in Halle angefahren und verletzt worden.

Es ist das Recht der Verteidigung, solche Aussetzungsanträge zu stellen. Eine Verteidigung darf auch Anträge stellen, die keine Aussicht auf Erfolg haben. Dass das Verfahren deshalb nicht zu “platzen” droht, hat die Vorsitzende Richterin auch in der Hauptverhandlung ohne viel Aufhebens klargestellt. Nach ihrer vorläufigen Bewertung seien die Voraussetzungen für eine Aussetzung nicht gegeben, da diese nur erfolgen müsse, wenn neue Umstände vorlägen und der Angeklagte sich auf diese neuen Umstände in seiner Verteidigung nicht genügend vorbereiten kann.  Dafür gäbe es keine Anhaltspunkte. Eine endgültige Bewertung durfte die Vorsitzende schlicht nicht abgeben, da der gesamte Senat über den Antrag entscheiden muss. 

Der eigentliche Skandal ist, dass die Bundesanwaltschaft den Angriff auf den Nebenkläger Ibrahim nicht schon als versuchten Mord anklagte, sondern lediglich als fahrlässige Körperverletzung. Diese faktische und juristische Fehleinschätzung, an der die Bundesanwaltschaft im Übrigen auch im Prozess festhielt, hatte den Antrag der Nebenklage erst erforderlich gemacht. Sogenannte „Raser“ werden wegen Mordes oder versuchten Mordes verurteilt. Wenn hingegen ein bekennender Rassist mit überhöhter Geschwindigkeit und die Fahrbahnseite wechselnd einen schwarzen Menschen anfährt und bekennt, für einen weißen Menschen hätte er versucht auszuweichen, dann konnte und wollte die Bundesanwaltschaft keinen Vorsatz erkennen. Das ist nicht verständlich. Insbesondere auch deshalb nicht, weil die Bundesanwaltschaft alle belastenden Äußerungen des Angeklagten und der Zeugen ignoriert und sich geradezu verbiegt, um das Geschehen als bloße Fahrlässigkeit zu interpretieren. Die Bundesanwaltschaft zieht zur Entlastung des Angeklagten und entgegen aller gegen ihn sprechenden Indizien allein dessen Einlassung bei der Polizei heran, die zudem einen anderen Komplex betrifft, und glaubt dieser. Dies ist der eigentliche Skandal. 

Genauso skandalös auch die Verkennung des versuchten Mordes am Nebenkläger İsmet Tekin, welcher auf der Straße den Schusssalven des Attentäters ausgesetzt war. Die Bundesanwaltschaft hat diesen Mordversuch ebenfalls in der Anklageschrift nicht berücksichtigt und beharrlich versucht, eine Beteiligung des Nebenklägers İsmet Tekin an der Hauptverhandlung zu verhindern. Entsprechend beantragte auch İsmet Tekins Rechtsanwalt gestern einen entsprechenden rechtlichen Hinweis, der Senat möge auch für seinen Mandanten feststellen, dass die Verurteilung wegen versuchten Mordes in Betracht kommt. 

Wir, verschiedene Nebenklägervertreter*innen, halten die Anträge, alle versuchten Tötungsdelikte auch als solche klar zu benennen und entsprechend zu verurteilen, für selbstverständlich. Rechtlicher Hintergrund der Anträge ist, dass erst nach Erteilung eines entsprechenden rechtlichen Hinweises das Gericht weitergehend als angeklagt verurteilen darf. Das prozessuale Vorgehen unserer Kolleg*innen ist allein bedingt durch eine Anklage der Bundesanwaltschaft, die sich weigert, den eliminatorischen Rassismus des Angeklagten auch in der Anklageschrift zutreffend zu benennen und zu werten. Das Verfahren wird dadurch selbstverständlich nicht gefährdet. 

Rechtsanwält*innen

Benjamin Derin
Ilil Friedman
Alexander Hoffmann 
Dr. Kati Lang
Onur Özata
Gerrit Onken 
Mark Lupschitz  
Kristin Pietrzyk
Doreen Blasig – Vonderlin
Antonia von der Behrens
Sebastian Scharmer