Danke, dass Sie so früh am Morgen schon hier sind, um ein Zeichen für Solidarität und gegen Rechts zu setzen. Danke, dass Sie mir die Möglichkeit geben, zu sprechen. Danke, dass Sie mir zuhören wollen.

Am 9. Oktober 2019, feierten Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt Yom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag. Ich selbst habe diesen Tag in der Synagoge in Halle verbracht und habe das Attentat überlebt. Mein Name ist Christina Feist.

Heute stehe ich vor Ihnen als Teil der Nebenklage im Prozess gegen den Täter. In wenigen Augenblicken werde ich dem Täter im Gerichtssaal gegenüberstehen, in dem Wissen, dass ich noch lebe und, dass ihm der Prozess gemacht wird.

Ich stehe vor Ihnen, um über meine Erlebnisse zu sprechen, aber auch über meine Wut und Enttäuschung. Das ist meine Verantwortung als Nebenklägerin in diesem Prozess, aber vor allem als Mensch.

Antisemitismus und rechtsradikale Ideologie sind kein neues Phänomen in Deutschland. Antisemitische Übergriffe sind ein trauriger Teil unseres alltäglichen Lebens und Symptome eines zutiefst in der deutschen Gesellschaft verwurzelten Antisemitismus, an dem sich trotz Shoah, trotz gezielter Vernichtung von 6 Millionen Juden und Jüdinnen, trotz systematischer Ermordung weiterer Bevölkerungsgruppen, trotz zweitem Weltkrieg, seit 100 Jahren nichts geändert hat! Es ist allerhöchste Zeit diese beschämende Wahrheit anzuerkennen!

Wenn ich nach Deutschland blicke, sehe ich ein Land, das sich nicht traut der Realität der Gegenwart ins Auge zu blicken. Ich sehe ein Land, das eben nicht aus seiner Vergangenheit gelernt hat. Ich sehe ein Land, dem der Mut und die Entschlossenheit fehlen, um Antisemitismus und rechte Ideologie gezielt zu bekämpfen. Ich sehe Politiker und Politikerinnen, die sich nicht zu mehr als einem empörten „Nie wieder!“ aufraffen können.

„Nie wieder“, das sind Worte, die für mich jegliche Bedeutung und Glaubwürdigkeit verloren haben. Leere Worte, auf die keine Taten folgen. Judentum gehört historisch zu Deutschland – diese Verbindung gab es schon lange vor der Shoah. Dennoch wird über die jüdische Gemeinschaft in Deutschland heute als eine Art Fremdköper gesprochen, als eine Minderheit, die es zu tolerieren gilt.

Sie müssen endlich begreifen, dass jeder antisemitische Übergriff, jeder hasserfüllte, durch rechte Ideologien geprägte Angriff, ein Angriff auf uns alle ist. Auf uns alle, die wir heute hier sind. Das ist ein direkter Angriff auf die Demokratie, auf die offene Gesellschaft, in der Sie und ich hier in Deutschland leben. Nehmen Sie das doch endlich persönlich! Als eine von über 40 Nebenklägerinnen und Nebenklägern, stehe ich heute hier, um unser Existenzrecht zu verteidigen, und um mich für Gerechtigkeit einzusetzen. Ich stehe hier aber auch um für eine offene, demokratische Gesellschaft zu kämpfen. Und ich bitte Sie inständig: Lassen Sie uns damit nicht alleine!

Antisemitismus, ich habe es heute schon gesagt, hat in der deutschen Gesellschaft tiefe Wurzeln geschlagen. Es vergeht kaum eine Woche, in der ich nicht von Freunden und Bekannten höre, die antisemitischen Beleidigungen und Angriffen in Deutschland ausgesetzt sind. Trotzdem werden all diese Übergriffe weiterhin als Ausnahmen, als Einzelfälle mit Einzeltätern behandelt.

Das ist ein sagenhafter Affront, eine massive Beleidigung gegen die gesamte jüdische Gemeinschaft!

Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober des letzten Jahres war wohl das deutlichste Zeichen dafür, dass wir schon lange nicht mehr von Einzelfällen sprechen, dass Antisemitismus nicht nur Problem der jüdischen Gemeinschaft ist, dass rechte Ideologie nicht nur Minderheiten betrifft. Beleidigungen, Beschimpfungen, Vandalismus, körperliche Gewalt – all das sind Symptome eines tief verwurzelten Antisemitismus. Es reicht schon lange nicht mehr „Nie wieder“ zu rufen, ohne Taten folgen zu lassen!

Ich bitte Sie also, zeigen Sie Zivilcourage!
Mischen Sie sich ein, wenn Sie Ungerechtigkeit, Hass und Ausgrenzung sehen!
Stehen Sie für Ihre Mitmenschen ein! Nehmen Sie uns endlich ernst!

Wir alle, die wir durch Staatsangehörigkeit oder Aufenthalt mit Deutschland verbunden sind, haben die Verantwortung uns zu wehren – gegen Antisemitismus, gegen antimuslimischen Rassismus, gegen Hass, gegen Diskriminierung, gegen Ausgrenzung.

Das ist nicht einfach. Das ist nicht gemütlich.
Das ist unbequem und anstrengend.
Aber wer, wenn nicht wir, kann sich dieser Aufgabe stellen?
Wann, wenn nicht jetzt, nehmen wir diese Verantwortung an?
Lassen wir uns nicht länger mit kleinen Errungenschaften und leeren Worten abspeisen!
Seien wir mutig! Seien wir unnachgiebig!
Kämpfen wir gemeinsam für unsere Demokratie! Für eine offene Gesellschaft!